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Blind-Jogging: Run Hans-Peter, run!

Corinne Dubacher
Corinne Dubacher
Mike Bär und Hans-Peter Schmid laufen öfters im Gleichschritt um den Greifensee. Dabei sieht nur einer von beiden, was gerade passiert, denn Hans-Peter Schmid ist blind.

Der bald 60-jährige Hans-Peter Schmid ist in seiner Jugend komplett erblindet. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, einen Marathon nach dem anderen zu rennen. Im Gegenteil. Er ist topfit – und schnell. Bereits zweimal lief er zusammen mit seinem «Blind-Guide» Mike Bär den Boston-Marathon. Wie es dazu kam und warum ihnen lange Hundeleinen ein Graus sind, erzählen sie im Interview.

Hans-Peter, wie bist du zum Laufen gekommen und was gibt dir der Laufsport?

Ich war schon immer ein Bewegungsmensch, machte viele verschiedene Sportarten. Mitte der 80er-Jahre kam ich durch Freunde zum Laufsport und seither gehört er – mit wenigen Unterbrüchen – zu meinem Leben. Ich renne einfach gerne und geniesse es, wenn ich meinen Körper brauchen kann. Faszinierend finde ich auch das Zusammenspiel mit einem Guide, wenn es fliesst und eine Harmonie entsteht.

Mike, wie wurdest du Blind-Guide?

Die Idee kam mir vor ein paar Jahren an einem Marathon in den USA. Dort sah ich zum ersten Mal ein paar Tandems, also Zweiergespanne, bestehend aus Blinden-Guide und blinder Person, und fand das total lässig. Zurück in der Schweiz suchte ich nach etwas Ähnlichem, fand den Lauftreff Limmattal und liess mich zum Blind-Guide ausbilden. Danach hiess es, wir haben einen schnellen blinden Läufer, und ich war dazumal der schnellste Guide, und so wurden Hans-Peter und ich ein Team.

Bei der Zuteilung ist also die Laufgeschwindigkeit ein wichtiges Kriterium?

Mike: Ja, genau. Hans-Peter ist ein Unikum. Wir sind fast gleich alt, aber er ist topfit. Das ist fast ein bisschen fies (lacht). Wir fingen also an, zusammen zu trainieren und wurden miteinander immer schneller. Irgendwann fragte ich ihn, ob wir uns nicht für einen Halbmarathon anmelden wollen.

 

Hans-Peter: Zuerst sagte ich kategorisch «Nein, das mache ich nicht mehr.» Ich kannte diese Wettkampfsituationen vom Langlauf und hatte keine Lust mehr, gegen die Uhr zu rennen. Dann liess ich mich aber doch noch überzeugen.

 

Mike: Und es lief erstaunlich gut. Das Problem ist nur: In der Schweiz ist vielen nicht bewusst, wie viel Platz wir brauchen, da wir ja nebeneinander rennen.

Wie äussert sich das?

Mike: Obwohl wir Signalwesten tragen, die uns klar kennzeichnen, schneiden uns gewisse Leute den Weg ab, wir werden angerempelt. Und auch die Organisatoren haben keine speziellen Vorrichtungen für beeinträchtigte Menschen. Sei dies ein Parkplatz oder ein Ort, von dem aus man zum Start kommt, ohne über Barrieren zu klettern. Oder dass sie vielleicht die Startnummer nach Hause schicken, damit man nicht anstehen muss, alles solche Sachen. Doch mit jedem Lauf wurde es ein wenig besser, wir haben uns arrangiert. In Luzern zum Beispiel stellte uns ein Hotel ein Zimmer zur Verfügung, damit wir uns in Ruhe vorbereiten konnten.

Wie muss man sich das vorstellen, wenn ihr miteinander rennt?

Mike: Unsere Hände sind durch ein Band eng miteinander verbunden. Wir sind uns also sehr nah, spüren uns. Wichtig ist auch, immer im Gleichschritt zu laufen. Während wir rennen, informiere ich ständig, was als Nächstes kommt, teile meine Beobachtungen mit. Sei dies ein Randstein, eine Wurzel, ein Hund, Spaziergänger, Velofahrer, ein herabhängender Ast, Richtungswechsel, einfach alles. Hans-Peter orientiert sich zusätzlich an meiner Atmung, achtet auf den Klang meiner Schritte.

Bei so viel Nähe muss man sich schon sympathisch sein, oder?

Mike: Auf jeden Fall, sonst funktioniert es nicht. Da haben wir Glück gehabt (lacht). Zwischen uns ist eine schöne Freundschaft entstanden.

 

Hans-Peter: Das mit uns passt einfach. Ich laufe unglaublich gerne mit Mike und bin sehr froh, dass sich das zwischen uns so gut eingespielt hat. Unser Teamwork ist Wahnsinn.

Und dann kam der Boston-Marathon.

Mike: Genau. Nach so vielen Läufen in der Schweiz sagte ich zu Hans-Peter: «Es gibt eigentlich nur einen Marathon auf der ganzen Welt, der sich wirklich lohnt, und das ist der Boston-Marathon.» Die Stimmung an einem solchen Lauf ist unvorstellbar, ein riesiges Volksfest. Um teilzunehmen, muss man sich qualifizieren, indem man einen Marathon läuft und seine Zeit einschickt. Das Anmeldefenster wird für vier Tage geöffnet und die schnellsten Läufer pro Altersgruppe ausgewählt. Für blinde Läufer haben sie verschiedene Kategorien. Man muss ein Zeugnis vorlegen, das bestätigt, wie beeinträchtigt das Sehvermögen ist. Hans-Peter wurde angenommen, und so reisten wir im Frühling 2019 nach Boston.

 

Wie ging es weiter?

Mike: Durchwegs positiv. Das begann schon am Flughafen in Boston. Der Immigration Officer rief «Awesome!», als er erfuhr, dass wir für den Marathon da sind. Und auch im Hotel wurden wir sehr herzlich empfangen, sie nannten uns «Heroes» und dekorierten das Hotelzimmer in Blau-Gelb, den offiziellen Farben des Boston-Marathons. Alle nahmen Rücksicht, man kümmerte sich um uns, es war wirklich sehr gut organisiert.

Hans-Peter, wie hast du den Boston-Marathon erlebt?

Die Stimmung war unbeschreiblich, das kann man kaum in Worte fassen. Die Präsenz der Zuschauerinnen und Zuschauer, die Freude, der Respekt und die Begeisterung, die sie mit uns teilten. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt. Es war unglaublich laut, das Publikum hat geschrien und gekreischt und über die gesamte Strecke lautstark mitgefiebert. Sehr beeindruckt haben mich auch die vielen freiwilligen Helfer und Helferinnen, die sich mit viel Herzblut engagieren.

Wie hast du dich motiviert, weiterzulaufen, als du gemerkt hast, dass die Kräfte langsam schwinden?

Hans-Peter: Ich wollte unbedingt im Ziel ankommen. Und dies in einer vernünftigen Zeit und unversehrt. Das hat mich unglaublich motiviert. Es tönt zwar banal, aber ein Lächeln hilft auch. Oder ein Spruch von Mike oder von anderen Läufer und Läuferinnen. Auf den letzten Kilometern ist die mentale Stärke entscheidend.

Was kommt als Nächstes? Habt ihr Pläne für einen weiteren Marathon?

Hans-Peter: Auf der Liste der gemeinsamen Projekte steht der London-Marathon. Bald erfahren wir, ob ich ausgelost wurde und wir teilnehmen können. Mein nächstes Projekt ist aber der Zürich-Marathon, den ich diesmal ohne Mike laufen werde, da er in letzter Zeit verletzungsbedingt nicht so viel trainieren konnte.

Fehlt das Bewusstsein für Blind-Jogging in der Schweiz?

Mike: Meiner Meinung nach auf jeden Fall. Da sind Autos, die uns fast über den Haufen fahren beim Zebrastreifen. Oder Leute, die mit den Kinderwagen nebeneinander laufen. Velofahrer, die uns anschnauzen, weil wir im Weg sind. Schwierig sind auch diese ultralangen Hundeleinen. Dies sind ja schön für den Hund, aber wenn der uns dann mit seiner Leine den Weg versperrt, müssen wir anhalten, warten und fragen, ob sie den Hund holen können. Ich finde es beschämend und hätte das nie gedacht.

 

Hans-Peter: Zum Teil ist es wirklich sackgefährlich. Ich staune manchmal über die Rücksichtslosigkeit gewisser Leute. Wir haben schon öfters erlebt, dass Velofahrer auf dem Trottoir oder beim Zürcher Seebecken frontal auf uns zu rasten, sodass wir uns in letzter Sekunde ins Gebüsch retten mussten. Oder dann die Leute, die ständig auf ihr Smartphone starren und nicht viel um sie herum mitbekommen. Man darf natürlich nicht alle in einen Topf werfen, es gibt auch viele schöne Begegnungen.

Über Blind-Jogging Schweiz

Der Verein Blind-Jogging ist die Dachorganisation des Blinden-Laufsports in der Schweiz und verfügt über Sektionen in Basel, Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich. Gegründet wurde der Verein 2015 von Gabor Szirt, mit dem Ziel, möglichst vielen sehbeeinträchtigten beziehungsweise blinden Menschen das begleitete Joggen draussen in der Natur zu ermöglichen.

Sind Sie blind oder haben Sie eine Sehbeeinträchtigung und würden gerne joggen?

Dann melden Sie sich beim Verein Blind-Jogging. Es warten viele gut ausgebildete Blinden-Guides darauf, Sie zu begleiten.

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