«Wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinwollen»

Die Zahl der Verkehrsteilnehmenden steigt kontinuierlich. Dennoch wird der Strassenverkehr immer sicherer. Noch rund 200 Todesfälle pro Jahr zählen wir – 90 Prozent weniger als vor 50 Jahren. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) ist mitverantwortlich für die sinkenden Unfallzahlen.

Text: Stephan Fischer Bild: Mauro Mellone

Markus Deublin (BFU) im Interview

Im Gespräch erklärt Markus Deublein, Leiter Abteilung Forschung Strassenverkehr bei der BFU, warum eine «Vision Zero» wichtig ist und welches Verkehrsgesetz er umgehend beschliessen würde.

Markus Deublein, fahren Sie Auto?
Ja, aber im Alltag eher selten. Ich fahre in erster Linie in den Ferien. Zusammen mit meiner Familie verbringe ich unsere Ferien seit Jahren mit dem VW-Bus in Europa. Darum weiss ich auch, wie herausfordernd es sein kann, mit dem Auto auf fremden Strassen in einem anderen Land unterwegs und nicht ortskundig zu sein (lacht).

Wie sicher ist Ihr Bus?
Er ist in seinem Alter sicher nicht auf dem aktuellen Stand der Technik. Die elektrischen Fensterheber und der Tempomat sind die fortschrittlichste Technologie, die er hat.

Und Sie fühlen sich dennoch sicher im Strassenverkehr?

Ja, denn sehr viel hängt von mir selbst ab. Ich kenne mein Auto, seine Grenzen, und ich kenne meine eigenen Grenzen. Die Selbsteinschätzung der Lenkenden ist ein wichtiges Thema bei der Verkehrssicherheit. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Familie sicher durch die Gegend fahre. Die «kostbare Ladung» trägt dazu bei, eher mal den Fuss vom Gaspedal zu nehmen.

Welches sind die grössten Gefahren im Strassenverkehr?
In der Strassenverkehrssicherheit betrachten wir den Menschen, das Fahrzeug und die Umwelt respektive die Infrastruktur. Der Mensch spielt oft die zentrale Rolle. Fehlerhaftes Verhalten und Selbstüberschätzung sind eine sehr grosse Gefahr. In der Analyse des Unfallgeschehens zeigt sich regelmässig, dass Ablenkung und Geschwindigkeitsübertretung die häufigsten Ursachen für schwere Unfälle sind. Die eigene Fahrfähigkeit richtig einzuschätzen, auch im Zusammenhang mit Substanzen wie Alkohol und Drogen, ist ein weiterer wichtiger Punkt.

Bezüglich Sicherheit: Kommt es darauf an, welches Auto ich kaufe?
Ja, absolut. Das Alter und somit die Zuverlässigkeit der einzelnen Komponenten spielen eine Rolle, aber auch die Ausstattung. Der Fortschritt in der Technologie war ein Grund für den Rückgang bei den Getöteten und Verletzten, zum Beispiel durch die verpflichtende Ausstattung mit ABS und ESP. Darum gilt vereinfacht gesagt: Je moderner ein Auto, desto sicherer ist es. Ab 2024 werden deshalb gewisse sicherheitserhöhende Fahrerassistenzsysteme bei allen neu verkauften Fahrzeugen obligatorisch.

Lohnen sich Assistenzsysteme auch beim Gebrauchtwagen?
Mein Rat ist ganz klar: Wenn Sie etwas Geld Franken für Extras übrighaben, dann investieren Sie sie nicht ins Soundsystem, in Alufelgen oder Ledersitze, sondern in einen Notbrems-Assistenten. Er ist amortisiert, sobald er den ersten Auffahrunfall vermieden hat.

Die Unfallzahlen haben in den letzten 50 Jahren um rund 90 Prozent abgenommen. Warum?
Unsere Verkehrssicherheitsarbeit im Zusammenspiel mit unseren Präventionspartnern hat ihren Beitrag geleistet, die Gründe sind aber vielfältig: Nebst grossen Bemühungen bei der Verkehrserziehung sind auch die Fahrzeuge sicherer und intelligenter geworden, sie schützen besser und vermeiden Unfälle zum Beispiel durch den Notbrems-Assistenten. Ein weiterer Grund ist die Infrastruktur. Strassen und andere bauliche Massnahmen sind nicht mehr nur aufs Auto ausgerichtet, sondern auf die einzelnen Verkehrsgruppen, also auch auf Zufussgehende und Velofahrende. Hier wurde viel standardisiert, investiert und so gebaut, dass die Infrastruktur immer selbsterklärender und sicherer wird für alle, die sich darauf bewegen. Zudem haben Gesetzesänderungen wie die Gurtentragpflicht, die Helmtragpflicht, Geschwindigkeitslimiten, Alkoholverbote für Neulenkende und Berufschauffeure dazu beigetragen, dass die Unfallzahlen gesunken sind.

Und beim Menschen?
Hier findet gerade in der Sicherheitsarbeit ein Umdenken statt: Früher hat man bei einem Unfall in erster Linie uns Menschen die Schuld gegeben und deshalb versucht, uns verkehrssicher zu erziehen. Das macht man immer noch und hat damit in den letzten Jahrzehnten auch viel erreicht. Heute sagt man aber, es brauche eine neue Philosophie: Wir Menschen sind verletzlich, wir machen Fehler, das müssen wir akzeptieren. Darum gilt es das System Strassenverkehr so zu gestalten, dass es für den Menschen geeignet ist, Fehler vermeidet oder möglichst verzeiht. Die Art der Strassenraumgestaltung sollte selbsterklärend sein, also uns Menschen intuitiv zu einem korrekten Verhalten bringen. So lassen sich viele Unfälle von vornherein vermeiden.

Also ist die Bilanz positiv?
Wir haben bereits sehr viel erreicht. Und je weiter wir sind, desto schwieriger und aufwendiger wird es, noch mehr zu erreichen. Trotzdem stirbt noch alle 1,5 Tage ein Mensch im Schweizer Strassenverkehr. Jede halbe Stunde verletzt sich jemand. Wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinwollen. Unser Auftrag ist es, hier weiterzumachen. Auch weil der Verkehr immer komplexer wird.

Sind null Verkehrstote je realistisch?
Ich finde es wichtig, dass wir eine «Vision Zero» haben. Es ist an uns, Lösungsansätze zu finden, um diese Vision zu erreichen. Und zwar schrittweise, indem wir uns konkrete Ziele setzen, wo wir in 10 oder 20 Jahren stehen wollen. Das Astra, das Bundesamt für Strassen, hat das Ziel formuliert, dass wir 2030 bei 100 Getöteten sein wollen. Es ist wichtig, dass wir alle Kräfte bündeln und alle Möglichkeiten ausloten, um dorthin zu kommen.

Wie können wir die Zahlen weiter senken?
Indem wir bei allen drei Bereichen ansetzen: beim Menschen – Stichwort Ausbildung –, bei der Infrastruktur mit den selbsterklärenden und Fehler verzeihenden Strassen und beim Fahrzeug. Hier liegt das grosse Versprechen im automatisierten Fahren. Der Weg dorthin ist aber noch lang.

Wann wird uns das Auto von der Garage zum Arbeitsplatz chauffieren?
Das werde ich nicht mehr erleben. Es dauert noch Jahrzehnte. Ob es überhaupt je so weit kommt, ist fraglich, weil der Verkehr mit den Kombinationen von Fussgängern, Velofahrerinnen, Fahrzeugen zu komplex ist. Wir haben in der Schweiz zu wenig Platz, um alle Verkehrsströme zu trennen. Diese Durchmischung des Verkehrs ist für automatisierte Fahrzeuge extrem komplex. Vor allem in den Städten gibt es riesige Hürden, die im Moment unüberwindbar erscheinen. Am ehesten ist das voll automatisierte Fahren auf Autobahnen vorstellbar – auf richtungsgetrennten Fahrbahnen, ohne Fussgängerinnen und Velofahrer.

Braucht die Gesellschaft überhaupt automatisiertes Fahren?
Eine sehr gute Frage. Die Gesellschaft ist sehr divers. Der erste Hype ums automatisierte Fahren war sicherlich von Geschäftsmodellüberlegungen getrieben. Ich finde, die Gesellschaft müsste zuerst den Diskurs darüber führen, wie sie in 50 Jahren leben möchte, wie das Stadtbild aussehen soll und wie viel Platz sie dann auch den automatisierten Autos einräumen möchte. Erst auf dieser Grundlage kann eine zukunftsgerichtete Politik stattfinden. Dann können die entsprechenden Weichen gestellt werden, um dorthin zu kommen. Aktuell habe ich eher den Eindruck, dass die Politik und die Gesetzgebung von den technologischen Entwicklungen der Automobilindustrie getrieben werden.

Womit werden Sie sich in den nächsten zehn Jahren beschäftigen?
Mit den Entwicklungen beim autonomen Fahren und mit der Komplexität des Verkehrs durch neue Teilnehmergruppen mit Kleinstfahrzeugen wie E-Trottinetts. Es wird um die Aufteilung des gemeinen Guts des Strassenraums gehen. Wie wird dieser aus Sicht der Sicherheit und der Lebensqualität am besten aufgeteilt? Da wird es Veränderungen geben, die bereits heute umgesetzt werden. Zum Beispiel mehr Platz für breitere und dadurch sicherere Velostreifen.

Wenn Sie ein Strassenverkehrsgesetz erlassen könnten, welches wäre es?
Persönlich müsste ich da nicht lange überlegen. Im Hinblick auf Verkehrssicherheit und Lebensqualität wäre das die Einführung von Tempo 30 innerorts. Aus der Physik kennt man die Rolle der Geschwindigkeit bei einer Kollision. Hier liesse sich schnell viel bewirken.

Zur Person

Markus Deublein (43) ist Leiter der Abteilung Forschung Strassenverkehr bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) und Dozent für Strassenverkehrssicherheit an der ETH Zürich. Er und sein Team bei der BFU forschen neben zahlreichen anderen Themen auch zum Thema «Automatisiertes Fahren». www.bfu.ch

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